Title
Social Europe, The Road not Taken. The Left and European Integration in the Long 1970s


Author(s)
Andry, Aurélie
Published
Extent
336 S.
Price
£ 81.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In der Forschung über die europäische Sozialpolitik werden zwei unterschiedliche Narrative vorgetragen: auf der einen Seite das Narrativ einer großen, einmaligen, aber dann dauerhaft verpassten Chance für ein soziales Europa, die manchmal schon in der Montanunion, häufiger in den 1970er-Jahren gesehen wird; auf der anderen Seite das Narrativ eines allmählichen Aufbaus der europäischen Sozialpolitik seit den 1950er-Jahren in vielen Schritten, auch mit Rückschlägen. Aurélie Dianara Andry sieht in den 1970er-Jahren eine einzigartige, aber dauerhaft gescheiterte Chance für ein soziales Europa.

In den vier wichtigsten Kapiteln des Buches behandelt Andry zuerst die große Chance für ein soziales Europa auf dem Pariser Gipfel 1972 der Europäischen Gemeinschaft. Sie schildert den besonders günstigen politischen Kontext: die prägende Zeit der Sozialdemokratie mit Politikern wie Olaf Palme, Willy Brandt, Bruno Kreisky, Harold Wilson und Joop den Heyl; die westeuropäischen Gewerkschaftsbewegungen auf einem Höhepunkt; sozialistische Regierungen in vier der neun Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft, Dänemark, Niederlande, Großbritannien und Deutschland und Regierungsbeteiligungen von Sozialisten in weiteren Mitgliedsländern. Andry stellt die besonders aktive Rolle der deutschen Regierung Brandts bei der Vorbereitung dieses Gipfels von 1972 in Paris heraus und behandelt die deutschen Forderungen nach Angleichung der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsschutzes, Mitbestimmung in multinationalen Unternehmen, nach einer Harmonisierung der nationalen Sozialpolitiken, mehr sozialer Planung, einem europäischen Sozialbudget, mehr Regional- und Umweltpolitik, sozialen Grundrechten und einer stärkeren Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern an den europäischen Entscheidungen. Der Gipfel von 1972 beschloss zwar nur, der Sozialpolitik das gleiche Gewicht zu geben wie der Wirtschaftspolitik und die Sozialpartner stärker an europäischen Entscheidungen zu beteiligen, aber er sah für die weiteren Forderungen doch die Ausarbeitung eines sozialen Aktionsprogramms für den nächsten Gipfel vor.

Andry behandelt dann die nächsten bedeutsamen Entscheidungen für ein soziales Europa: zuerst die „Thesen für ein soziales Europa“, die auf dem Kongress der sozialistischen Parteien in Bonn 1973 gefasst wurden und die meisten Forderungen der deutschen Regierung von 1972 wieder aufnahmen; danach das soziale Aktionsprogramm des Gipfels der Europäischen Gemeinschaft von 1974, das wiederum viele Punkte der deutschen Forderungen von 1972 enthielt, allerdings ein komplizierter Kompromiss war, dessen Zustandekommen Andry nachzeichnet (S. 157ff.). Umgesetzt wurde dieses soziale Aktionsprogramm in den Augen von Andry während der 1970er-Jahre in Ansätzen in der Reform des Europäischen Sozialfonds, in der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, in der Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitgebern an europäischen Entscheidungen, im Schutz der Arbeitnehmer vor Entlassung und im Abbau des Entlohnungsrückstand von Frauen, kaum dagegen in der Angleichung der nationalen Sozialpolitiken, in der Umweltpolitik und in der Regionalpolitik (S. 204ff.).

Die Chancen für einen weiteren Ausbau des sozialen Europa schwanden, so Andry, in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren mit dem Scheitern von europäischen Gesprächen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern 1978 (S. 198ff.), mit den wenig wirkungsvollen europäischen Aktionen der Gewerkschaften (S. 224ff.) und mit den Regierungswechsel in wichtigen Mitgliedsländern. Europa wurde von da an stärker neoliberal geprägt. Für dieses Scheitern des linken sozialen Europa der 1970er-Jahre sieht Andry drei Gründe. Es hing an der Uneinigkeit der Linken in zentralen sozialen Themen, vor allem der Mitbestimmung und der Planung, aber auch der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der politischen Bündnispartner, also an tiefen Gräben zwischen Sozialdemokraten im nördlichen Europa und Sozialisten im südlichen Europa, darüber hinaus auch an der ablehnenden Haltung der britischen Linken gegenüber der europäischen Integration. Darüber hinaus wurden die Pläne für das soziale Europa zu spät und zu langsam umgesetzt. Schließlich war in Andrys Augen das soziale Europa ein Projekt von linken politischen Eliten und Technokraten. Es stützte sich nicht auf eine breite linke Bewegung und scheiterte auch deshalb.

Das Buch von Aurélie Dianara Andry besitzt deutliche Vorzüge. Es untersucht eingehender als bisherige Arbeiten, welche Pläne für ein soziales Europa die Linke in den 1970er-Jahren besaß, welche Ziele sie sich setzte und welche Gemeinsamkeiten bestanden, welche zentralen Referenzbeschlüsse gefasst wurden, wie diese Entscheidungen zustande kamen, welche Politiker und Experten dabei prägend waren, welche Konfliktpunkte in der westeuropäischen Linken bestanden und vor welchem historischen Kontext diese linken Pläne eines sozialen Europa entwickelt wurden. Zudem legt Andry eine ausführliche Erklärung für das Scheitern dieses Projekts eines linken sozialen Europa vor und arbeitet zentrale Gründe erheblich genauer heraus, als das bisher geschah. Sie hat für ihr Buch eingehend das Historische Archiv der Europäische Union in Florenz und Gewerkschaftsarchive ausgewertet. Das Buch ist ideenreich geschrieben, mit vielen Anregungen für die Leser:innen und in eingehender Kenntnis der englisch-, italienisch- und französischsprachigen Forschung während Forschungsaufenthalten in Frankreich, Italien und Großbritannien.

Allerdings lässt sich ein dramatisches Scheitern des sozialen Europa, also der Bruch, den Aurélie Andry zwischen den Plänen des sozialen Europa der 1970er-Jahre und der Kommissionspräsidentschaft von Jacques Delors (1985–1995) sieht, nicht wirklich nachvollziehen. Die wesentlichen Elemente der Forderungen der Regierung Brandts für den Gipfel von 1972 und des Arbeitsprogramms des Pariser Gipfels von 1974, darunter die stärkere Beteiligung der Gewerkschaften an den europäischen Entscheidungen, der Ausbau des europäischen Sozialfonds und des Regionalfonds, die Durchsetzung von Minimalstandards für die Arbeitsbedingungen und Gesundheit am Arbeitsplatz und die sozialen Grundrechte waren genauso auch Ziele des späteren Kommissionspräsidenten Delors während der 1980er- und 1990er-Jahre, wurden von ihm mit wenigen Abstrichen überwiegend wirkungsvoll weitergeführt oder zumindest angeschoben. Sicher musste Delors diese Sozialpolitik in einem völlig anderen politischen Kontext und mit Regierungen ganz anderer politischer Richtung in den Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft durchführen. Aber die europäische Sozialpolitik der 1970er- Jahre endete in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht erkennbar, sondern wurde erst unter dem späteren Kommissionspräsidenten Baroso an den Rand gedrängt und dies auch dann nicht dauerhaft. Dennoch legt legt Andry insgesamt ein ideenreiches, gut lesbares, eingehend recherchiertes, manchmal etwas überpointiertes, aber in jedem Fall lesenswertes Buch vor.